Sartres Erfindung des Menschen
Michael Seibel • Das Nichts kommt durch den Menschen in die Welt (Last Update: 12.12.2017)
Ich
möchte mit einer Beobachtung zur Aktualität Sartres
beginnen, und zwar auf eine zugegebenermaßen etwas merkwürdige
Art, indem ich nicht zuerst über Sartre spreche, sondern über
eine berühmt gewordene Schlußformel Foucaults. Er schreibt
am Ende von Die Ordnung der
Dinge:
»Der Mensch ist
eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres
Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn
diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind,
wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens
vorausahnen können, aber dessen Form und Verheißung wir im
Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken
gerieten, (...) dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch
verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.«1
Dies Verschwinden wäre dann ein Verschwinden, das nicht einmal Spuren hinterläßt. Der Mensch als Selbsterfindung... aus Sartres Sicht würde sich der Mensch sogleich neu erfinden, welche Woelle auch immer ihn gerade weggespült hat.
Was Sartres Aktualität angeht: Es gibt nur wenige Philosophen, die heute noch so stark polarisieren wie Sartre, sofern Sartre denn gelesen wird. Der Mensch ist für Sartre in der Tat eine permanente Erfindung der Freiheit. Wenn man aber den Menschen radikal aus seiner Freiheit heraus verstehen will, aus einer Freiheit, die prinzipiell durch nichts, durch keinerlei Zwang oder äußere Notwendigkeit suspendierbar ist, dann ist er auch für alles Seiende verantwortlich, ob er es selbst erzeugt, selbst herbeigeführt hat oder nicht. Es gibt dann keine andere Moral, an der er sich orientieren könnte, als die von ihm selbst gesetzte.
Einwände, die heute ebenso spontan gegen Sartres Existentialismus laut werden wie im Frankreich am Ende des zweiten Weltkrieges klingen etwa so:
Das kann doch wohl nicht sein, daß ich z.B. voll und ganz für einen Krieg verantwortlich sein soll, in den man mich hineingezwungen hat und den ich nicht selbst angezettelt habe. Man kann doch nicht schuld an allem sein.
Das kann doch wohl nicht sein, daß ich aus mir selbst heraus und alle anderen aus sich selbst heraus ohne irgendwelche äußeren Orientierungen entscheiden können sollten, was gut und was schlecht ist.
Doch! Genau so hat es Sartre gemeint. Er wollte in der Tat sagen, daß jeder Mensch frei ist - und zwar unabhängig davon, ob er frei sein möchte oder feste Bindungen für sein Leben präferiert - und daß die Freiheit – selbst wenn niemand darum gebeten hat, frei zu sein - nicht gratis ist. Das Provokante und zugleich etwas Dogmatische, aus dem logischen Zwang des Arguments heraus Gesagte ist der Gedanke, daß es Freiheit (trotz Neuro-Science) nur ganz gibt, daß der Mensch nicht in mancher Hinsicht frei ist und in anderer nicht, und daß es die Freiheit auch nicht ganz oder gar nicht gibt. Uns bleibt nicht einmal die Wahl, frei zu sein oder nicht. Es gibt keine Unfreiheit, hinter der wir uns verstecken könnten und mit der wir unseren Mangel an Engagement entschuldigen könnten.
Gesagt ist das aus der Erfahrung des Krieges heraus, in der Freiheit wertvoll wird und der Mangel an ethischer Orientierung erfahrbar. Sartres Philosophie der Freiheit ist eine Philosophie ohne Hierarchie. Das ist ein weiterer Grund, warum sie manchem auch heute noch im Magen liegen dürfte. Ihr Rigorismus ist der Situation geschuldet und wirkt dadurch heute auf viele überfordernd.
„Niemals waren wir freier als unter der deutschen Besatzung. Wir hatten all unsere Rechte verloren und in erster Linie das Recht zu sprechen; (…) Die oft grauenvollen Umstände unseres Kampfes versetzten uns endlich in die Lage, ungeschminkt und unverhüllt jene zerrissene, unhaltbare Situation zu durchleben, die man die Conditio humana nennt. Exil, Gefangenschaft und vor allem den Tod, den man in glücklichen Zeiten geschickt kaschiert, machten wir zu ständigen Gegenständen unserer Sorgen, (...) Und die Wahl, die jeder von sich traf, war echt, weil sie angesichts des Todes fiel, weil sie sich stets in der Form: «Lieber den Tod als ...» hätte ausdrücken lassen.“2
Daran gemessen scheint es heute um nichts mehr zu gehen. Der Krieg ist vorbei. Neue Ordnungen sind längst wieder hergestellt, die Häuser wieder aufgebaut, die Schuldigen sind verstorben. Die jetzt millionenfach sterben, sterben anderswo. Die Ordnungen, in denen jeder einzelne sich bei uns bewegt sind massiver und zugleich krisenanfälliger denn je. Der Mensch als radikale Freiheit ist da kaum gefragt. Was heute Freiheit heißt, ist die Freiheit zu konsumieren und Eigentum zu erwerben. Die Wege dahin sind aber gerade keine schlechterdings freien, sondern eine begrenzte Anzahl von Freiheitsgraden, die dem Einzelnen, abhängig von Parametern wie Herkunft und Ausbildung geboten werden.
Aber gerade darin wird Sartre zur Provokation, sein radikaler Freiheitsbegriff geradezu zum Gefährder. Vielleicht sogar mehr als zu der Zeit, als der Existentialismus Mode war. Noch ist der Mensch nicht spurlos verschwunden wie das Gesicht im Sand. Eigentlich wäre es Sache des Krieges gewesen, den Menschheitsbegriff auszuradieren und die Menschen als Kriegsopfer untergehen zu lassen. Aber dazu kam es nicht. Vielleicht auch, was den Begriff des Menschen angeht, ein Stück weit wegen Sartre, der zu denken anregte, daß es all der Dispositive, die der Krieg zerstört hat, nicht bedarf. Sartre hat mit dem Menschen als Freiheit die Möglichkeit eines ziemlich voraussetzungsloser Neuanfangs für und durch jeden Einzelnen gedacht.
Gehen wir der Provokation nach. Das kann doch wohl nicht sein, dieser Dreischritt …
… Das Nichts kommt durch den Menschen ins Sein - dazu die erste Passage.
… Menschen sind außerstande, sich zum Ding zu machen, eins mit ihrem Status zu werden, das Nichts wieder los zu werden - dazu die zweite Textpassage.
… und diese Freiheit, um die sie nicht gebeten haben, zahlen sie auch noch mit absoluter Verantwortung - dazu die dritte Textpassage, die man nicht anders nennen kann als eine ausgesprochen kontroverse Zumutung.
Kurz noch eine Abgrenzung gegen Heidegger. In seinem Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit verweist die Möglichkeit, daß es so etwas wie Wahrheit gibt, auf die menschliche Freiheit, das heißt für ihn auf unsere Möglichkeit, uns „in die Entbergung des Seienden als eines solchen“ einzulassen oder nicht. Heidegger kam dabei zu Aussagen wie:
„Der Mensch »besitzt« die Freiheit nicht als Eigenschaft, sondern höchstens gilt das Umgekehrte: die Freiheit, das ek-sistente, entbergende Da-sein besitzt den Menschen.“
Das klingt auffällig ähnlich wie Sartres These, der Mensch sei dazu verurteilt, frei zu sein.
Sartre entwickelt diese Grundaussage jedoch anders als Heidegger nicht in einer Reflektion auf die Ek-sistenz und das Sein, sondern auf die Existenz und das Nichts. Wie kommt Sartre zu solchen Aussagen wie:
„Das Sein, durch das das Nichts zur Welt kommt, muß sein eigenes Nichts sein.“
oder: der Mensch ist das Nichts, das sich sein Sein ständig erst schaffen muß. Das hätte Heidegger so nicht gesagt.
Nun hat Sartre Sprache den Vorteil der Anschaulichkeit, zumeist (wenn auch nicht immer).
Das Problem des Nichts
Hier die drei Textpassagen aus Das Sein und das Nichts:
„Wenn der Wirbelsturm den Tod gewisser Lebewesen herbeiführen kann, ist dieser Tod nur dann Zerstörung, wenn er als solche erlebt wird. Damit es Zerstörung geben kann, muß es zunächst ein Verhältnis des Menschen zum Sein geben, das heißt eine Transzendenz; und in den Grenzen dieses Verhältnisses muß der Mensch ein Sein als zerstörbar erfassen. Das setzt ein begrenzendes Abtrennen eines Seins im Sein voraus, was (...) schon Nichtung ist. Das betrachtete Sein ist dies und außerhalb dessen nichts. Der Artillerist, dem man ein Ziel zuweist, bemüht sich, sein Geschütz in diese Richtung einzustellen, unter Ausschluß aller anderen. Aber das wäre noch nichts, wenn das Sein nicht als zerbrechlich enthüllt wäre. Und was ist die Zerbrechlichkeit, wenn nicht eine gewisse Wahrscheinlichkeit von Nicht-sein für ein unter bestimmten Umständen gegebenes Sein? Ein Sein ist zerbrechlich, wenn es in seinem Sein eine bestimmte Möglichkeit von Nicht-sein birgt. Aber es ist wieder der Mensch, durch den die Zerbrechlichkeit dem Sein geschieht, denn die individualisierende Begrenzung, die wir eben erwähnten, ist Bedingung der Zerbrechlichkeit: ein Sein ist zerbrechlich, nicht aber das ganze Sein, das jenseits jeder möglichen Zerstörung ist. So läßt das Verhältnis individualisierender Begrenzung, das der Mensch auf der primären Grundlage seines Bezugs zum Sein zu einem Sein unterhält, die Zerbrechlichkeit in dieses Sein kommen als Erscheinung einer permanenten Möglichkeit von Nicht-sein. Aber das ist nicht alles: damit es Zerstörbarkeit geben kann, muß der Mensch sich gegenüber dieser Möglichkeit von Nicht-sein bestimmen, entweder positiv oder negativ: er muß die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um sie zu verwirklichen (Zerstörung im eigentlichen Sinn) oder um sie, durch eine Negation des Nicht-seins, immer auf der Ebene einer bloßen Möglichkeit zu halten (Schutzmaßnahmen). Somit ist es der Mensch, der die Städte zerstörbar macht, gerade weil er sie als zerbrechlich und als wertvoll setzt und weil er für sie eine Gesamtheit von Schutzmaßnahmen ergreift. Und wegen der Gesamtheit dieser Maßnahmen kann ein Erdbeben oder ein Vulkanausbruch diese Städte oder diese menschlichen Bauten zerstören. Und der ursprüngliche Sinn und das Ziel des Krieges sind im kleinsten Bauwerk des Menschen enthalten. Man muß also zugeben, daß die Zerstörung eine wesenhaft menschliche Sache ist und daß es der Mensch ist, der seine Städte über Erdbeben oder direkt zerstört, der seine Schiffe über Wirbelstürme oder direkt zerstört. Zugleich muß man aber zugeben, daß die Zerstörung ein präjudikatives Verständnis des Nichts als solchen und ein Verhalten gegenüber dem Nichts voraussetzt. Außerdem ist die Zerstörung, obwohl sie dem Sein durch den Menschen geschieht, ein objektives Faktum und nicht ein Denken. In das Sein dieser Vase hat sich die Zerbrechlichkeit eingeprägt, und ihre Zerstörung wäre ein unumkehrbares und absolutes Ereignis, das ich nur feststellen könnte. Es gibt eine Transphänomenalität des Nicht-seins wie des Seins. Die Untersuchung des Verhaltens «Zerstörung» führt uns also zu denselben Ergebnissen wie die Untersuchung des Frageverhaltens.
Aber wenn wir uns eindeutig entscheiden wollen, brauchen wir nur ein negatives Urteil an ihm selbst zu betrachten und uns zu fragen, ob es das Nicht-sein mitten im Sein erscheinen läßt oder ob es sich darauf beschränkt, eine früher gemachte Entdeckung zu fixieren. Ich bin um vier Uhr mit Pierre verabredet. Ich komme eine viertel Stunde zu spät: Pierre ist immer pünktlich; hat er auf mich gewartet? Ich sehe mich im Lokal um, sehe mir die Gäste an und sage: «Er ist nicht da.» Ist das eine Intuition der Abwesenheit Pierres, oder tritt die Negation erst mit dem Urteil auf? Auf den ersten Blick erscheint es als absurd, hier von Intuition zu sprechen, weil es eben gerade keine Intuition von nichts geben kann und die Abwesenheit Pierres dieses Nichts ist. Aber das populäre Bewußtsein bezeugt diese Intuition. Man sagt zum Beispiel : «Ich habe sofort gesehen, daß er nicht da war.» Handelt es sich um eine bloße Verlagerung der Negation? Sehen wir näher hin.
Sicher ist das Cafe, durch sich selbst, mit seinen Gästen, seinen Tischen und Stühlen, seinen Spiegeln, seinem Licht, seiner verrauchten Atmosphäre, den Geräuschen von Stimmen, von klappernden Untertassen, von Schritten, die es erfüllen, eine Seinsfülle. Und alle Einzelintuitionen, die ich haben kann, sind erfüllt von diesen Gerüchen, Klängen, Farben, lauter Phänomenen , die ein transphänomenales Sein haben. Ebenso ist die gegenwärtige Anwesenheit Pierres an einem Ort, den ich nicht kenne, auch Seinsfülle. Es scheint so, als fänden wir diese Fülle überall. Aber man muß beachten, daß es in der Wahrnehmung immer Konstituierung einer Form auf einem Hintergrund gibt. Kein Objekt, keine Gruppe von Objekten ist speziell bestimmt, sich als Hintergrund oder als Form zu organisieren: alles hängt von der Richtung meiner Aufmerksamkeit ab. Wenn ich in dieses Cafe eintrete, um dort Pierre zu suchen, bildet sich eine synthetische Organisation aller Gegenstände des Cafes als Hintergrund, auf dem Pierre gegeben ist als der, der erscheinen soll. Und diese Organisation des Cafes als Hintergrund ist eine erste Nichtung. Jedes Element des Raums, Person, Tisch, Stuhl, sucht sich zu isolieren, sich von dem durch die Totalität der anderen Gegenstände konstituierten Hintergrund abzuheben und fällt in die Undifferenziertheit dieses Hintergrunds zurück, löst sich in diesem Hintergrund auf. Denn der Hintergrund ist das, was nur mitgesehen wird, das Objekt einer bloß marginalen Aufmerksamkeit. So ist diese erste Nichtung aller Formen, die erscheinen und versinken in der totalen Äquivalenz eines Hintergrunds, die notwendige Bedingung für das Erscheinen der Hauptform, die hier die Person Pierres ist. Und diese Nichtung ist meiner Intuition gegeben, ich bin Zeuge des sukzessiven Schwindens aller Gegenstände, die ich betrachte, besonders der Gesichter, die mich einen Augenblick festhalten («Ob das Pierre ist?») und die sich sofort auflösen, eben weil sie Pierres Gesicht «nicht sind». Würde ich jedoch Pierre endlich entdecken, so wäre meine Intuition durch ein festes Element erfüllt, ich wäre plötzlich von seinem Gesicht fasziniert, und das ganze Cafe würde sich um ihn herum zu diskreter Anwesenheit organisieren. Aber Pierre ist eben nicht da. Das soll keineswegs heißen, daß ich seine Abwesenheit an irgendeiner bestimmten Stelle des Lokals entdecke. Pierre ist von dem ganzen Cafe abwesend; seine Abwesenheit läßt das Cafe in seinem Schwinden erstarren, das Cafe bleibt Hintergrund, es verharrt dabei, sich meiner bloß marginalen Aufmerksamkeit als undifferenzierte Totalität darzubieten, es gleitet zurück, es verfolgt seine Nichtung. Doch für eine bestimmte Form macht es sich zu Hintergrund, es trägt sie überall vor sich her, es bietet sie mir überall dar, und diese Form, die sich immer wieder zwischen meinen Blick und die festen, realen Gegenstände des Cafes schiebt, ist gerade ein ständiges Schwinden, sie ist Pierre, der sich vom Nichtungshintergrund des Cafes als Nichts [néant] abhebt. So ist das der Intuition Dargebotene ein Flimmern von Nichts, das Nichts des Hintergrunds, dessen Nichtung die Erscheinung der Form herbeiruft und verlangt, und die Form - Nichts [néant], das wie ein nichts [rien] auf der Oberfläche des Hintergrunds dahingleitet. Was dem Urteil: «Pierre ist nicht da» als Grundlage dient, ist also genau das intuitive Erfassen einer zweifachen Nichtung. Und sicher setzt die Abwesenheit Pierres einen ersten Bezug von mir zu diesem Cafe voraus; es gibt eine Unzahl von Leuten, die ohne irgendeinen Bezug zu diesem Cafe sind, weil es an einer realen Erwartung mangelt, die ihre Abwesenheit feststellt. Aber ich erwarte, gerade Pierre zu sehen, und meine Erwartung hat Pierres Abwesenheit geschehen lassen wie ein reales, dieses Cafe betreffendes Ereignis, jetzt ist diese Abwesenheit ein objektives Faktum, ich habe sie entdeckt, und sie bietet sich als ein synthetischer Bezug zwischen Pierre und dem Raum dar, in dem ich ihn suche: der abwesende Pierre sucht dieses Cafe heim und ist die Bedingung für dessen nichtende Anordnung als Hintergrund. Dagegen sind die Urteile, die ich zum Spaß formulieren kann, wie «Wellington ist nicht in diesem Cafe, Paul Valery ist auch nicht da» usw., rein abstrakte Bedeutungen, bloße Anwendungen des Negationsprinzips, ohne reale Grundlage oder Wirksamkeit, und es wird ihnen nie gelingen, einen realen Bezug zwischen dem Cafe, Wellington oder Valery herzustellen: die Beziehung: «ist nicht» ist hier bloß gedacht. Das zeigt zur Genüge, daß das Nicht-sein den-Dingen nicht durch das Negationsurteil geschieht: vielmehr wird das Negationsurteil durch das Nicht-sein bedingt und erhalten.
Wie könnte es übrigens anders sein? Wie könnten wir die verneinende Form des Urteils überhaupt begreifen, wenn alles Seinsfülle und Positivität ist? Einen Augenblick lang hatten wir geglaubt, die Negation könnte aus der Gegenüberstellung des erwarteten und des erhaltenen Ergebnisses hervorgehen. Sehen wir uns aber diese Gegenüberstellung an: hier ein erstes Urteil als konkreter, positiver psychischer Akt, der eine Tatsache feststellt: «In meiner Brieftasche sind 1300 Francs», und hier ein zweites, das auch nichts anderes als eine Tatsachenfeststellung und eine Affirmation ist: «Ich erwartete, 1500 Francs vorzufinden». Das sind also reale, objektive Tatsachen, positive, psychische Ereignisse, affirmative Urteile. Wo ist Platz für die Negation ? Glaubt man, daß sie bloße Anwendung einer Kategorie ist? Und meint man, daß der Geist das Nein als Form des Auslesens und Trennens in sich besitzt? Aber in diesem Fall nimmt man der Negation noch die geringste Spur von Negativität. Wenn man annimmt, daß die Kategorie des Nein, eine tatsächlich im Geist existierende Kategorie als positives, konkretes Verfahren zum Zusammenbrauen und Systematisieren unserer Erkenntnisse, plötzlich ausgelöst wird durch die Anwesenheit gewisser affirmativer Urteile in uns und daß sie plötzlich gewisse Gedanken, die sich aus diesen Urteilen ergeben, mit ihrem Siegel prägt, dann hat man die Negation gründlich jeder negativen Funktion beraubt. Denn die Negation ist Existenzverweigerung. Durch sie wird ein Sein (oder eine Seinsweise) gesetzt und dann ins Nichts zurückgeworfen. Wenn die Negation Kategorie ist, wenn sie nur ein auf gewisse Urteile indifferent aufgesetzter Dämpfer ist, woher nimmt man dann, daß sie ein Sein nichten, es plötzlich auftauchen lassen und es benennen kann, um es ins Nichtsein zurückzuwerfen? Wenn die vorhergegangenen Urteile Tatsachenfeststellungen sind wie die, die wir als Beispiel benutzt haben, muß die Negation wie eine freie Erfindung sein, muß sie uns von dieser Mauer von Positivität losreißen, die uns umschließt: sie ist eine plötzliche Unterbrechung, die auf keinen Fall aus den vorhergehenden Affirmationen resultieren kann, ein originales und unreduzierbares Ereignis. Aber wir sind hier in der Sphäre des Bewußtseins. Und das Bewußtsein kann eine Negation nur in Form von Negationsbewußtsein hervorbringen. Keine Kategorie kann das Bewußtsein «bewohnen» und sich dort aufhalten wie ein Ding. Das Nein als plötzliche intuitive Entdeckung erscheint als Bewußtsein (zu sein), Bewußtsein des Nein. Kurz, wenn es überall Sein gibt, so ist nicht nur das Nichts, wie Bergson meint, unfaßbar: vom Sein wird man niemals die Negation ableiten. Die notwendige Bedingung dafür, daß es möglich ist, nein zu sagen, ist, daß das Nicht-sein eine ständige Anwesenheit ist, in uns und außer uns, daß das Nichts das Sein heimsucht.“3
Sein, was man nicht ist
Nun die zweite Passage.
„Beobachten wir einen Kellner im Cafe. Er hat lebhafte und eifrige Bewegungen, etwas allzu präzise, etwas allzu schnelle, er kommt mit einem etwas zu lebhaften Schritt auf die Gäste zu, er verbeugt sich mit etwas zuviel Beflissenheit, seine Stimme, seine Blicke drücken ein Interesse aus, das etwas zuviel Aufmerksamkeit für die Bestellung des Gastes enthält, nun kommt er zurück und versucht, durch seinen Gang die unbeugsame Starrheit irgendeines Automaten zu imitieren, während er gleichzeitig sein Tablett mit einer Art Seiltänzerkühnheit trägt, indem er es in einem fortwährend instabilen und fortwährend gestörten Gleichgewicht hält, das er mit einer leichten Bewegung des Arms und der Hand fortwährend wiederherstellt. Sein ganzes Verhalten wirkt auf uns wie ein Spiel. Er bemüht sich, seine Bewegungen aneinander zu reihen, als wären sie Mechanismen, die einander beherrschen, seine Mimik und sogar seine Stimme wirken wie Mechanismen; er legt sich die Behändigkeit und erbarmungslose Schnelligkeit der Dinge bei. Er spielt, er unterhält sich. Aber was spielt er? Man braucht ihn nicht lange zu beobachten, um sich darüber klar zu werden: er spielt Kellner sein. Darin liegt nichts Überraschendes: das Spiel ist eine Art Sichzurechtfinden und Erkunden. Das Kind spielt mit seinem Körper, um ihn zu erforschen, um eine Bestandsaufnahme davon zu machen; der Kellner spielt mit seiner Stellung, um sie zu realisieren. Das ist für ihn ebenso notwendig wie für jeden Kaufmann: ihre Stellung ist ganz Zeremonie, das Publikum verlangt von ihnen, dass sie sie wie eine Zeremonie realisieren, es gibt den Tanz des Lebensmittelhändlers, des Schneiders, des Versteigerers, mit dem sie ihre Kundschaft davon überzeugen wollen, dass sie weiter nichts sind als ein Lebensmittelhändler, ein Versteigerer, ein Schneider. Ein Lebensmittelhändler, der träumt, ist für den Käufer beleidigend, weil er nicht mehr ganz ein Lebensmittelhändler ist. Die Höflichkeit verlangt, dass er sich in den Grenzen seiner Lebensmittelhändlerfunktion hält, wie der Soldat beim Strammstehen sich zum Soldat - Ding macht mit geradeaus gerichtetem Blick, der aber nicht sieht, der nicht mehr dazu da ist, zu sehen, denn die Vorschrift und nicht sein augenblickliches Interesse bestimmt den Punkt, den er zu fixieren hat (den «auf zehn Schritt fixierten» Blick). Das sind Vorkehrungen, die den Menschen in dem einsperren sollen, was er ist. Als ob wir in der ständigen Furcht lebten, dass er daraus entweicht, dass er plötzlich aus seiner Stellung herauskommt und sie umgeht. Aber parallel dazu kann ja der Kellner von innen her nicht unmittelbar Kellner sein, so wie dieses Tintenfass Tintenfass ist oder das Glas Glas ist. Er kann durchaus reflexive Urteile oder Begriffe über seine Stellung haben. Er weiß genau, was sie «bedeutet»: die Verpflichtung, um fünf Uhr aufzustehen, vor dem Öffnen des Lokals den Boden zu kehren, die Kaffeemaschine anzustellen usw. Er kennt die Rechte, die mit ihr verbunden sind: das Recht auf Trinkgeld, die gewerkschaftlichen Rechte usw. Aber alle diese Begriffe, alle diese Urteile verweisen auf das Transzendente. Es handelt sich um abstrakte Möglichkeiten, um Rechte und Pflichten, die einem «Rechtssubjekt» verliehen sind. Und es ist gerade dieses Subjekt, das ich zu sein habe und das ich überhaupt nicht bin. Nicht, dass ich es nicht sein möchte oder wollte, dass es ein anderer wäre. Vielmehr gibt es kein gemeinsames Maß zwischen seinem Sein und dem meinen. Es ist für die ändern und für mich selbst eine «Vorstellung», das bedeutet, dass ich es nur als Vorstellung sein kann. Aber gerade wenn ich es mir vorstelle, bin ich es überhaupt nicht, ich bin von ihm getrennt wie das Objekt vom Subjekt, getrennt durch nichts, aber dieses Nichts isoliert mich von ihm, ich kann es nicht sein, ich kann nur spielen, es zu sein, das heißt mir einbilden, dass ich es sei. Und eben dadurch affiziere ich es mit Nichts. Ich mag noch so sehr die Funktionen eines Kellners erfüllen, ich kann es nur in neutralisierter Weise sein, so wie der Schauspieler Hamlet ist, indem ich mechanisch die typischen Bewegungen meines Berufs mache und mich über diese [...] Bewegungen als imaginären Kellner betrachte. Was ich zu realisieren versuche, ist ein An-sich-sein des Kellners, als ob es nicht einfach in meiner Macht stände, meinen beruflichen Pflichten und Rechten ihren Wert und ihre Dringlichkeit zu verleihen, als ob es nicht meine freie Wahl wäre, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen oder im Bett zu bleiben, auf die Gefahr hin, entlassen zu werden. Als ob ich gerade dadurch, dass ich diese Rolle in der Existenz halte, sie nicht nach allen Richtungen transzendierte, mich nicht als ein Jenseits meiner Stellung konstituierte. Doch es besteht kein Zweifel, dass ich in gewissem Sinn Kellner bin - könnte ich mich nicht andernfalls ebenso gut Diplomat oder Journalist nennen? Aber wenn ich es bin, dann kann das nicht in der Weise des Ansichseins sein. Ich bin es in der Weise, das zu sein, was ich nicht bin. Es handelt sich übrigens nicht nur um die sozialen Stellungen; ich bin nie irgendeine meiner Haltungen, meiner Verhaltensweisen. Der Schönredner ist der, der reden spielt, weil er nicht redend sein kann: der aufmerksame Schüler, der aufmerksam sein will, den Blick auf den Lehrer geheftet, die Ohren weit geöffnet, erschöpft sich derartig, den Aufmerksamen zu spielen, dass er schließlich gar nichts mehr hört. Ständig von meinem Körper, von meinen Handlungen abwesend bin ich mir selbst zum Trotz jene «göttliche Abwesenheit», von der Valery spricht. Ich kann weder sagen, dass ich hier bin noch dass ich nicht hier bin, so wie man sagt: «diese Streichholzschachtel ist auf dem Tisch»: das hieße mein «In-der-Welt-sein» mit einem «Umweltlich-sein» gleichsetzen. Noch dass ich stehend bin, noch dass ich sitzend bin: [...] Überall entgehe ich dem Sein, und dennoch bin ich.“4
Totalverantwortung
Nun der letzte Text:
„Die wesentliche Konsequenz unserer vorangehenden Ausführung ist, dass der Mensch, dazu verurteilt, frei zu sein, das Gewicht der gesamten Welt auf seinen Schultern trägt: er ist für die Welt und für sich selbst als Seinsweise verantwortlich. Wir nehmen das Wort «Verantwortlichkeit» in seinem banalen Sinn von «Bewusstsein davon, der unbestreitbare Urheber eines Ereignisses oder eines Gegenstands zu sein» [...], denn die schlimmsten Übel oder die schlimmsten Gefahren, die meine Person zu treffen drohen, haben nur durch meinen Entwurf einen Sinn; und sie erscheinen auf dem Grund des Engagements, das ich bin. Es ist also unsinnig, sich beklagen zu wollen, weil ja nichts Fremdes darüber entschieden hat, was wir fühlen, was wir erleben oder was wir sind. Diese absolute Verantwortlichkeit ist übrigens keine Hinnahme: sie ist das bloße logische Übernehmen der Konsequenzen unserer Freiheit. Was mir zustößt, stößt mir durch mich zu, und ich könnte weder darüber bekümmert sein noch mich dagegen auflehnen, noch mich damit abfinden. Übrigens, alles, was mir zustößt, ist meins: darunter ist zuallererst zu verstehen, dass ich als Mensch immer auf der Höhe dessen bin, was mir zustößt, denn was einem Menschen durch andere Menschen und durch ihn selbst zustößt, kann nur menschlich sein. Die grauenhaftesten Situationen des Krieges, die schlimmsten Foltern schaffen keinen unmenschlichen Sachverhalt: es gibt keine unmenschliche Situation; allein durch Furcht, Flucht oder Rückgriff auf magische Verhaltensweisen kann ich mich für das Unmenschliche entscheiden; aber eine solche Entscheidung ist menschlich, und ich werde die gesamte Verantwortung dafür tragen. Aber die Situation ist außerdem meine, weil sie das Bild von meiner freien Wahl meiner selbst ist, und alles, was sie mir bietet, ist meins, insofern mich das darstellt und symbolisiert. Bin ich es nicht, der ich, indem ich über mich entscheide, über den Widrigkeitskoeffizienten der Dinge entscheide bis hin zu ihrer Unvorhersehbarkeit? So gibt es keine Zwischenfälle in einem Leben; ein gesellschaftliches Ereignis, das plötzlich ausbricht und mich mitreißt, kommt nicht von außen; wenn ich in einem Krieg eingezogen werde, ist dieser Krieg mein Krieg, er ist nach meinem Bild, und ich verdiene ihn. Ich verdiene ihn zunächst, weil ich mich ihm immer durch Selbstmord oder Fahnenflucht entziehen konnte: diese letzten Möglichkeiten müssen uns immer gegenwärtig sein, wenn es darum geht, eine Situation zu betrachten. Da ich mich ihm nicht entzogen habe, habe ich ihn gewählt; das kann aus Schlappheit, aus Feigheit gegenüber der öffentlichen Meinung sein, weil ich bestimmte Werte sogar der Weigerung, in den Krieg zu ziehen, vorziehe (die Achtung meiner Nächsten, die Ehre meiner Familie usw.). Jedenfalls handelt es sich um eine Wahl. Diese Wahl wird in der Folge bis zum Ende des Kriegs fortgesetzt wiederholt werden; man muss also den Ausspruch von Jules Romains unterschreiben: «Im Krieg gibt es keine unschuldigen Opfer». Wenn ich also dem Tod oder der Entehrung den Krieg vorgezogen habe, dann geschieht alles so, als wenn ich die gesamte Verantwortung für diesen Krieg trüge. Gewiss, andere haben ihn erklärt, und man wäre vielleicht versucht, mich als bloßen Komplizen zu betrachten. Aber dieser Begriff der Komplizenschaft hat nur einen juristischen Sinn; hier hält er nicht stand; denn es hat von mir abgehangen, dass für mich und durch mich dieser Krieg nicht existiere, und ich habe entschieden, dass er existiert. Es hat keinerlei Zwang gegeben, denn Zwang könnte keinerlei Einfluss auf eine Freiheit haben; ich habe keinerlei Entschuldigung gehabt, denn wie wir in diesem Buch gesagt und wiederholt haben, ist es die Eigenart der menschlichen Realität, dass sie ohne Entschuldigung ist. Es bleibt mir also nur, diesen Krieg zu übernehmen. Aber außerdem ist es meiner, denn allein dadurch, dass er in einer Situation auftaucht, die ich sein mache, und dass ich ihn nur m ihr entdecke, indem ich mich für oder gegen ihn engagiere, kann ich jetzt die Wahl, die ich von mir selbst mache, nicht mehr unterscheiden von der Wahl, die ich von ihm mache: Diesen Krieg erleben heißt durch ihn mich wählen und durch meine Wahl meiner selbst ihn wählen. Es kann gar nicht in Frage kommen, ihn als «vier Jahre Ferien» oder als «Aufschub» oder als eine «Sitzungspause» zu betrachten, weil das Wesentliche meiner Verantwortlichkeit woanders liegt, in meinem Ehe-, Familien- und Berufsleben. Sondern in diesem Krieg, den ich gewählt habe, wähle ich mich Tag für Tag, und ich mache ihn zu meinem, indem ich mich mache. Wenn er vier leere Jahre sein soll, trage ich dafür die Verantwortung. Kurz, wie wir im vorangehenden Abschnitt ausgeführt haben, ist jede Person eine absolute Wahl ihrer selbst, ausgehend von einer Welt von Kenntnissen und Techniken, die von dieser Wahl zugleich angenommen und beleuchtet wird; jede Person ist etwas Absolutes, das sich eines absoluten Datums erfreut, welches zu einem anderen Datum völlig undenkbar ist. Es ist also müßig, sich zu fragen, was ich gewesen wäre, wenn dieser Krieg nicht ausgebrochen wäre, denn ich habe mich gewählt als ein möglicher Sinn der Epoche, die unmerklich zum Krieg führte; ich unterscheide mich nicht von eben dieser Epoche, ich könnte nicht ohne Widerspruch in eine andere Epoche versetzt werden. Also bin ich dieser Krieg, der die Periode, die ihm vorangegangen ist, einschränkt und begrenzt und verstehen lässt. In diesem Sinn muss man der eben zitierten Formulierung, «Im Krieg gibt es keine unschuldigen Opfer», zur genaueren Definition der Verantwortlichkeit [...] folgende hinzufügen: «Man hat den Krieg, den man verdient.» Total frei also, ununterscheidbar von der Periode, deren Sinn zu sein ich gewählt habe, ebenso tief für den Krieg verantwortlich, als wenn ich ihn selbst erklärt hätte, unfähig, etwas zu erleben, ohne es in meine Situation zu integrieren, mich ganz darin zu engagieren und sie mit meinem Siegel zu prägen, muss ich ohne Gewissensbisse und ohne Bedauern sein, wie ich ohne Entschuldigung bin, denn vorn Augenblick meines Auftauchens zum Sein an trage ich das Gewicht der Welt für mich ganz allein, ohne dass irgend etwas noch irgend je mand es erleichtern könnte. Doch diese Verantwortlichkeit ist von ganz besonderer Art. Man wird mir ja entgegenhalten: «Ich habe nicht verlangt, geboren zu werden», was eine naive Art ist, unsere Faktizität zu betonen. Ich bin ja für alles verantwortlich, außer für meine Verantwortlichkeit selbst, denn ich bin nicht die Begründung meines Seins. Alles geschieht so, als wenn ich gezwungen wäre, verantwortlich zu sein. Ich bin verlassen in der Welt, nicht in dem Sinn, dass ich preisgegeben und passiv bliebe in einem feindlichen Universum, wie die Planke, die auf dem Wasser treibt, sondern im Gegenteil in dem Sinn, dass ich mich plötzlich allein und ohne Hilfe finde, engagiert in einer Welt, für die ich die gesamte Verantwortung trage, ohne mich, was ich auch tue, dieser Verantwortlichkeit entziehen zu können, und sei es für einen Augenblick, denn selbst für mein Verlangen, die Verantwortlichkeit zu fliehen, bin ich verantwortlich; mich in der Welt passiv machen, mich weigern, auf die Dinge und auf die Anderen einzuwirken heißt immer noch mich wählen, und der Selbstmord ist ein Modus des In-der-Welt-seins unter anderen. Indessen finde ich eine absolute Verantwortung wieder, weil meine Faktizität, das heißt hier das Faktum meiner Geburt, direkt unfassbar und sogar undenkbar ist, denn dieses Faktum meiner Geburt erscheint mir niemals roh [...]: ich schäme mich, geboren zu sein, oder ich wundere mich darüber, oder ich freue mich darüber, oder ich behaupte, indem ich versuche, mir das Leben zu nehmen, dass ich dieses Leben als schlecht erlebe und annehme. Also wähle ich in gewissem Sinn, geboren zu sein [...]; ich stoße immer nur auf meine Verantwortlichkeit, deshalb kann ich nicht fragen: «Warum bin ich geboren?», den Tag meiner Geburt verfluchen oder erklären, dass ich nicht verlangt habe, geboren zu werden, denn diese verschiedenen Haltungen gegenüber meiner Geburt, das heißt gegenüber dem Faktum, dass ich eine Anwesenheit in der Welt realisiere, sind eben nichts anderes als verschiedene Arten, diese Geburt in voller Verantwortlichkeit zu übernehmen und sie zur meinen zu machen [...], so dass letztlich meine Verlassenheit, das heißt meine Faktizität, lediglich darin besteht, dass ich dazu verurteilt bin, vollständig für mich selbst verantwortlich zu sein. [...] Unter diesen Bedingungen, da sich mir ja jedes Ereignis der Welt nur als Gelegenheit (genutzte, verpasste, vernachlässigte Gelegenheit usw.) entdecken kann oder, besser noch, da ja alles, was uns zustößt, als eine Chance angesehen werden kann, das heißt uns nur als Mittel zur Realisierung dieses Seins, das in unserem Sein in Frage steht, erscheinen kann, und da ja die anderen [...] ebenfalls nur Gelegenheiten und Chancen sind, erstreckt sich die Verantwortlichkeit des Für-sich auf die gesamte Welt als bevölkerte Welt. [...] Wer in der Angst seine Bedingung realisiert, in eine Verantwortlichkeit geworfen zu sein, die sich bis auf seine Verlassenheit zurückwendet, hat weder Gewissensbisse noch Bedauern, noch Entschuldigungen mehr; er ist nur noch eine Freiheit, die sich als völlig sie selbst entdeckt und deren Sein in eben dieser Entdeckung beruht. Aber [...] die meiste Zeit fliehen wir vor der Angst in die Unaufrichtigkeit.“5
Wie gesagt erweist sich gerade dieser letzte Text als Zumutung für so manchen, mit dem ich darüber gesprochen habe und zwar mit den beiden Argumenten, die ich oben schon genannt habe:
Es kann doch wohl nicht sein, daß ich für einen Krieg verantwortlich sein soll, den ich nicht selbst angezettelt habe.
Es kann doch außerdem nicht sein, daß ich als einzelner ohne bündige Vorgaben entscheiden können sollte, was gut und was schlecht ist.
Was sind die Bedingungen der Möglichkeit dieser beiden Einwände gegen Sartre? Beginnen wir mit dem zweiten Gegenargument. Die Vorstellung, ohne bündige Vorgaben könne niemand verbindlich gut und schlecht unterscheiden, geht entweder davon aus, daß es solche bündige Kriterien gibt oder daß gut und schlecht aufgehört haben, sich zu unterscheiden. Alles andere wäre ungereimt.
Heute, zu Zeiten eines mehr als 70-jährigen Friedens in Europa, gehen die meisten Menschen davon aus, daß es im Prinzip Kriterien dafür gibt, was jeder seinen Mitmenschen schuldig ist und was nicht und genau aus diesem Grund wird man es ablehnen, schuld 'an allem' zu sein. Die Existenz von Kriterien ist ja gerade die Möglichkeit, Schuld zu bestimmen und einzugrenzen. Es ist das vielleicht wichtigste Kriterium des Friedens, daß unser Zusammenleben im Prinzip derart verfaßt ist, daß wir uns einigermaßen gewaltfrei darüber einigen können, was wir dem anderen schulden und was nicht.
Schuld ist ein dreigliedriger Term. Er unterscheidet den Schuldner, den Gläubiger und die Schuld, und zwar als grundlegende Struktur des menschlichen Zusammenlebens.
Dazu muß es den geben, der eine Schuld eingeht, Kriterien, die die Schuld bemessen und den Gläubiger, der Schuld vergibt.
Sartre erweist sich in seiner Bestimmung von Freiheit und Verantwortung als radikaler Moralist. Das Schuldverhältnis ist für Sartre eine grundlegend produktive Struktur und hat in seinem Denken (und das wird sich auch in seiner späteren Kritik der dialektischen Vernunft nicht ändern) den Charakter einer ontologischen Grundbestimmung.
In einer Situation also, in der die Kriterien des Guten nicht mehr klar sind – und der Krieg ist für ihn eine solche Situation – ist jeder Einzelne qua Freiheit für alles verantwortlich. Und solange es den Anderen nicht als denjenigen gibt, der etwas oder jemanden entschuldigt, sondern als den, der Gewalt ausübt, gibt es für nichts eine Entschuldigung. ...weil es niemals eine Möglichkeit gibt, sich selbst zu entschuldigen und, da alles menschliche Leben Austausch ist, auch keine Möglichkeit, ohne Schuld zu sein.
Nur, wer sein Leben lang im Frieden gelebt hat, kann, so scheint mir, die Anforderung an jeden einzelnen, in die Bresche zu springen, als grundlose und überflüssige Zumutung betrachtet.
Anmerkungen:
1 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt 1971, S. 462
2 Jean-Paul Sartre, Freiheit und Verantwortung, 1944
3 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Neuübersetzung September 1991, Reinbek bei Hamburg, S. 57 – 63
4 Ebd., S. 139 - 142
5 Ebd., S. 950 - 955
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